Um trotz dieser Hürde zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, haben sich die am Projekt VIRTUALTIMES beteiligten Wissenschaftler einen ungewöhnlichen Ansatz einfallen lassen. Ihre Idee ist dabei nicht nur originell, sondern für die Patienten auch vollkommen gefahrlos. Wie der Projektname schon nahelegt, hat es etwas mit virtueller Realität zu tun.
Abtauchen in virtuelle (Zeit)-Welten
„Es geht darum, Zeiterleben als solches zu isolieren, also zunächst messbar zu machen und, in einem zweiten Schritt, aber zu verändern. Die virtuelle Realität – oder auch kurz VR – bietet hier unglaubliche Möglichkeiten“, erklärt Jording zu den Vorteilen der VR-gestützten Methodik. „Wir können auf diese Weise ganz viele unterschiedliche Aspekte einer Situation beeinflussen, ohne dass sie wie eine reine Laborsituation erlebt wird.“ Patienten könnten mittels VR-Brille und Bewegungssensoren in eine beliebige Wirklichkeit hineinversetzt werden.
Dabei spielen die Sensoren eine wichtige Rolle, da sie das sogenannte Embodiment unterstützen, also die körperlichen Aspekte unserer Wahrnehmung. „Es kommt gar nicht so sehr auf die fotorealistische Grafik an, als vielmehr auf die Frage, wie sehr man sich in eine Situation hineinversetzen kann oder nicht“, so Jording. Wer schon einmal die Gelegenheit hatte, Menschen mit einem Headset dabei zu beobachten, wie sie versuchen, einen schmalen Balken über eine fiktive Schlucht zu überqueren, glaubt ihm das sofort.
Manipulierte Zeitanzeiger
Und wie kommt in der scheinbaren Realität nun die Zeit ins Spiel? Genauso wie in der echten Wirklichkeit. Das Ticken einer Uhr, die Bewegungen von anderen Menschen, ein vorbeiziehender Vogelschwarm, Sonnenauf- oder -untergänge – all das sind nur eine Handvoll möglicher Ereignisse, die uns Veränderung und damit das Vergehen von Zeit signalisieren. „Nur im Rahmen der Virtuellen Realität können wir so viele unterschiedliche Zeitgeber gleichzeitig manipulieren“, erklärt Vogeley. „Wir bauen uns hier quasi eine Werkbank zusammen, um das Zeitgefühl messbar zu machen.“
Mit MetaChron, wie die Wissenschaftler ihr Werkzeug getauft haben, kehren sie den klassischen Ansatz gewissermaßen um. Statt unmittelbar nach dem subjektiven Erleben zu fragen, steuern sie die objektiven Rahmenbedingungen und beobachten die Effekte. So können sie Kontext und individuelles Empfinden zueinander in Beziehung setzen und aus ihrem Verhältnis messbare Ergebnisse ableiten. Man kann sich MetaChron also wie einen Sextanten für das Zeiterleben vorstellen. Mit dem Unterschied, dass bei MetaChron statt Sonne und Horizont subjektives Zeitgefühl und objektive Parameter aufeinander bezogen werden.
Darüber hinaus bietet diese besondere Versuchsanordnung die Gelegenheit, Gefühl und Wirklichkeit einander anzunähern – auch wenn Letztere in diesem Fall nur virtuell ist. Das Ziel ist, Patienten gleichsam bei ihrem individuellen Erleben abzuholen. Dieses Erleben kann mitunter sehr stark von den lebensweltlichen Bezügen und ihrem Takt abweichen. So gibt es psychische Erkrankungen, die das Zeitempfinden massiv beeinflussen.
Autor: Philippe Patra/ Forschungszentrum Jülich
Wenn das Leben aus dem Takt gerät
Wie psychische Störungen unser Zeitgefühl verändern
Psychiater Kai Vogeley berichtet von teilweise bizarren Störungen der inneren Uhr. „Menschen, die an einer Depression leiden, erzählen manchmal, die Zeit vergehe sehr langsam oder stehe gar still. Das bringt sie dann zum Teil sogar so weit zu denken, sie seien tot.“ Für manische Patienten verginge die Zeit dagegen wie im Fluge. Auch Schizophrenie kann das Zeitgefühl beträchtlich durcheinanderbringen, bis hin zum Verlust der aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestehenden Zeitstruktur.
„So, als sei ich ganz anders“
„Ich habe den ganzen Tag ein Gefühl, das mit Angst durchsetzt ist und das sich auf die Zeit bezieht. Ich muss unaufhörlich denken, dass die Zeit vergeht. Während ich jetzt mit Ihnen spreche, denke ich bei jedem Wort: ‚vorbei‘, ‚vorbei‘, ‚vorbei‘.“ – so schildert eine 20-jährige Frau, die an einer Depression erkrankt ist, ihr Zeitempfinden. Ihre Wahrnehmung konzentriert sich fast ausnahmslos auf die Vergänglichkeit und mündet schließlich in einer sozialen Entfremdung.
„Ich kann nicht verstehen, dass Menschen Pläne machen und einen Sinn mit solchen Zeitangaben verbinden und dabei ganz ruhig bleiben. Ich fühle mich darum allen Menschen entfremdet, so als gehörte ich nicht dazu, als sei ich ganz anders.“ Diese Äußerungen der jungen Frau machen ihre Not anschaulich und nachvollziehbar. Das eigentlich Bemerkenswerte daran ist allerdings etwas Anderes: Diese Äußerungen stammen bereits aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Der Psychiater Victor Emil von Gebsattel hatte sie 1954 aufgezeichnet.
VR-Brille als Therapiehelfer
Der Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und einer gestörten Zeitwahrnehmung ist schon lange bekannt. Trotzdem gibt es bisher kaum therapeutische Ansätze, die diesen Zusammenhang berücksichtigen. Das möchte das VIRTUALTIMES-Projekt ändern. Neben dem vornehmlich analytischen Anliegen, die inneren Taktgeber des Menschen besser zu verstehen, haben sich Vogeley und die anderen beteiligten Wissenschaftler auch das Ziel gesetzt, neue Behandlungsmethoden zu entwickeln.
„Die Idee ist, möglicherweise über die Modifikationen von Zeit in der VR eine Therapie etablieren zu können“, erklärt Vogeley. Eine Depression mittels VR-Brille zu heilen, mag zunächst vielleicht etwas gewagt erscheinen, allerdings haben sich vergleichbare Ansätze bei anderen Krankheitsbildern bereits durchaus bewährt – etwa bei Angststörungen.
Der fiebernden Anna Hoagland hätte eine solche Brille freilich wenig genützt. Die war in ihrem Fall ja aber auch gar nicht nötig, schließlich kümmerte sich ihr Mann um sie – mit anteilnehmender Fürsorge und der Neugier eines Wissenschaftlers. Seinen Wissensdurst hat Hudson Hoagland übrigens zeitlebens behalten. So berichtete ein Nachbar, er habe den hochbetagten Hoagland einst an einer Notrufsäule stehen sehen. Als er ihn fragte, ob er ihm helfen könne, winkte dieser nur ab und entgegnete, es sei alles in Ordnung, er wollte nur herausfinden, wie dieses Ding funktioniere.
Autor: Philippe Patra/ Forschungszentrum Jülich
Quelle:
Foto: Die VR-Brille hilft bei der Erforschung der subjektiven Zeit. © Just_Super / iStock
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