Die «ErstprĂŒfung» elektrischer Installationen ist eine zentrale Handlungskompetenz von Elektrofachpersonen. Aber die Vermittlung dieser Handlungskompetenz stellt die Lernorte vor erhebliche Herausforderungen, was auch die ernĂŒchternden Resultate in den Qualifikationsverfahren zeigen. Ein interdisziplinĂ€res Innovationsprojekt der PH ZĂŒrich und der ZHAW nimmt sich dieser Problematik an und erprobt das Potenzial von Virtual Reality (VR) fĂŒr den Aufbau beruflicher Handlungskompetenzen am Beispiel der ErstprĂŒfung. Im Projekt wurde der Prototyp einer VR-Lernumgebung fĂŒr Berufslernende der Elektrobranche entwickelt und dessen Wirkung in einer Feldstudie evaluiert. Die Resultate wiesen auf das Potenzial dieser Technologie fĂŒr das berufliche Lernen hin.
1 Ausgangslage
Der Effekt der VR-Lernumgebung auf das Erlernen der ErstprĂŒfung wurde im FrĂŒhlingssemester 2022 in einer Feldstudie mit 78 Lernenden im letzten Ausbildungssemester untersucht.
Mit der rasanten Entwicklung von Virtual Reality (VR) wird es immer einfacher, in technisch erzeugte 3D-Welten einzutauchen und mit Objekten zu interagieren.[1] Als «technologiegestĂŒtzte Erfahrungswelten» (Zinn 2020) wird VR deshalb auch als ErgĂ€nzung der beruflichen Ausbildung zunehmend interessant, da damit komplexe Inhalte realitĂ€tsnah aufbereitet, vermittelt und somit berufliche Fertigkeiten gefördert werden können (Kim u.a. 2020; Goertz, Fehling, und Hagenhofer 2021; Cattaneo 2022). VR-Lernumgebungen werden in der beruflichen Grundbildung bisher jedoch kaum systematisch eingesetzt; die Forschungslage ist noch mangelhaft und das Potenzial der Technologie fĂŒr die Aneignung beruflicher Kompetenzen erscheint noch unklar (Wolfartsberger 2022, 298).
2 Projektziel und Methode
Um diese LĂŒcken zu schliessen, wurde im vorliegenden Forschungsprojekt (DIZH 2022) die Implementierung einer VR-Lernumgebung in der beruflichen Grundbildung am Beispiel der Ausbildung von Elektrofachpersonen untersucht (Berger u.a. 2022; Nechita u.a. 2022). Die Basis bildete ein Design-Based Research-Ansatz (DBR), der darauf abzielt, durch die theoretisch fundierte Entwicklung und Erprobung einer praxisorientierten Lösung den Mehrwert einer Technologie wie VR fĂŒr die berufliche Grundbildung zu validieren (Euler und Wilbers 2020). Auf der Grundlage des generischen DBR-Models von Euler (Euler 2014) wurde das Projekt in die drei Phasen Analyse (Abschnitt 3), Prototyping/formative Evaluation und summative Evaluation (Abschnitt 4) strukturiert.
Die Phase der Design-Entwicklung bildet den Kern des DBR-Ansatzes; in diesem Rahmen wurde ein didaktisches Konzept erstellt, das Eigenschaften und Leitprinzipien der VR-Lernumgebung spezifizierte. Im vorliegenden Artikel wird der Schwerpunkt aber auf die dritte Projektphase gelegt, um Hinweise zum generellen Potenzial von VR-Lernumgebungen fĂŒr die berufliche Grundbildung zu erhalten. Grundlage dafĂŒr ist eine Feldstudie mit klassischem analytischem Design (Abschnitt 5).

Die erforderliche VerschrĂ€nkung von fachlichem, pĂ€dagogischem und technologischem Wissen wurde u.a. durch die Kooperation zwischen dem Verband fĂŒr Elektroberufe EIT.swiss, der ZĂŒrcher Hochschule fĂŒr angewandte Wissenschaften (ZHAW) und der PĂ€dagogischen Hochschule ZĂŒrich sichergestellt. Das Projekt wurde gefördert von der Digitalisierungsinitiative der ZĂŒrcher Hochschulen (DIZH).
3 Auswahl der beruflichen Situation
Im Curriculum der Ausbildung von Elektrofachpersonen wurde eine berufliche Handlungssituation gesucht, die sich aus fachdidaktischer und technologischer Perspektive fĂŒr eine VR-Lernumgebung eignet. Diese wurde in der ErstprĂŒfung gefunden, der jede elektrische Anlage vor Inbetriebnahme unterzogen werden muss. Die ErstprĂŒfung ist deshalb eine zentrale berufliche Handlungskompetenz und gewichtiger Bestandteil des praktischen Teils des Qualifikationsverfahrens (QV) von Elektroinstallateuren[2] und seit 2018 auch von Montage-Elektrikerinnen. Lernende erhalten erfahrungsgemĂ€ss in der betrieblichen Ausbildung aber nur bedingt Gelegenheit, die ErstprĂŒfung durchzufĂŒhren â wohl mit ein Grund fĂŒr die schlechten Resultate im Qualifikationsverfahren (Bertinelli 2020).
4 Erstellung der VR-Simulation und deren pÀdagogische Rahmung
Um Lernen in komplexen (realen oder virtuellen) Situationen zu ermöglichen, bedarf es einer pÀdagogischen Rahmung der Situationen (Dehnbostel 2006). Deren Grundlage bilden pÀdagogische Leitprinzipien. Im Kontext von VR-Lernumgebungen stellen sich zahlreiche konzeptuelle Prinzipien als anschlussfÀhig dar (Loke 2015; Zinn 2019; Zinn u.a. 2020; Schwendimann u.a. 2015). Mit dem im DBR-Forschungsansatz angelegten Ziel, verallgemeinerbare Gestaltungsprinzipien zu generieren, suchten wir Theorien mittlerer Reichweite (Euler 2017) und spezifizierten sie zur pÀdagogischen Gestaltung der Lern- Lehrsituationen:
- den Scaffolding-Ansatz, um den Lernprozesses innerhalb des virtuellen Raums zu modulieren;
- die Kompetenzorientierung, die die zentrale Verbindung von systematischem und handlungsgebundenem Lernen sicherstellt;
- den Gamification-Ansatz, der die Lernenden zusÀtzlich motiviert.
Aus der VR-Simulation sollte so eine VR-Lernumgebung werden, in der die Lernenden selbststĂ€ndig an der spezifischen Handlungskompetenz der ErstprĂŒfung arbeiten können.

5 Feldstudie
Design
Der Effekt der VR-Lernumgebung auf das Erlernen der ErstprĂŒfung wurde im FrĂŒhlingssemester 2022 in einer Feldstudie mit 78 Lernenden im letzten Ausbildungssemester untersucht (35 Elektroinstallateurinnen, 43 Montage-Elektriker). Die Lernenden wurden im Rahmen von QV-Vorbereitungskursen im Januar 2022 auf ihre Handlungskompetenz «ErstprĂŒfung» getestet (pre-test). Danach wurden sie angewiesen, ĂŒber einen Zeitraum von ca. zwei Monaten wĂ€hrend ihrer betrieblichen Ausbildungszeit an der DurchfĂŒhrung der ErstprĂŒfung zu arbeiten. Als zeitliche Richtgrösse wurde insgesamt 120 Minuten, verteilt auf mehrere Zeitfenster, vorgegeben.
Die Lernenden der Interventionsgruppe wurden zudem instruiert, dabei die VR-Lernumgebung (VR-Headsets des Typs Oculus Quest 2) zu nutzen, in deren Anwendung sie zuvor eingefĂŒhrt wurden. Die Lernenden der Kontrollgruppe wurden gebeten, fĂŒr die Vorbereitung die herkömmlichen Lern- und Lehrmittel im Rahmen desselben Zeitrahmens zu benutzen.
Die Interventionsphase endete mit dem praktischen Teil des Qualifikationsverfahrens (QV, post-test). Die pre-und post-tests erfolgten mittels praktischer Einzeltest gemĂ€ss Vorgaben (EIT.swiss 2020a; 2020b). Darin erteilten Experten den Lernenden Handlungsaufgaben an Ăbungsinstallationen und beurteilten diese. Die Vergleiche zwischen Interventions- und Kontrollgruppe erfolgten mittels Mittelwertvergleich (T-Test) mit Messwiederholung. Unterschiede zwischen den untersuchten Ausbildungsberufen wurden anhand einer Varianzanalyse analysiert.

Resultate
Bei den Montage-Elektrikern hingegen zeigt sich ein signifikanter Unterschied, der gross ausfĂ€llt. So lag hier die Entwicklung der Testresultate der Interventionsgruppe (n=24) gegenĂŒber der Kontrollgruppe (n=19) um durchschnittlich .84 Notenpunkte höher.
Von 78 ausgewĂ€hlten, im pre-test auf die Handlungskompetenz ErstprĂŒfung getesteten Lernenden konnten darauf im post-test noch 68 getestet werden. Die Lerndauer der Interventionsgruppe (Anwendung der VR-Lernumgebung) betrug gemĂ€ss Selbstauskunft der Lernenden durchschnittlich 67.84 Minuten, was unterhalb des vorgegebenen Zeitrahmens von 120 Minuten lag, allerdings streuen die Zeitwerte sehr stark (SD= 42.26). Die Lerndauer der Kontrollgruppe wurde nicht erhoben. Tabelle 1 zeigt die Testresultate im pre-test und post-test und deren unterschiedliche Entwicklung. Beide Gruppen wiesen im pre-test einen ungenĂŒgenden und beim post-test einen genĂŒgenden Notenwert auf, wobei dieser bei der Interventionsgruppe im pre-test um .62 tiefer und im post-test um .14 höher ausfiel.

Das Delta der Testresultate lag bei den Lernenden der Interventionsgruppe durchschnittlich um 0.77 Notenpunkte höher als bei den Lernenden der Kontrollgruppe. Dieser Unterschied ist statistisch signifikant (95%-CI[0.12, 1.15]), t(66)=2.98,p = .008). Es zeigte sich ein mittelgrosser Effekt der VR-Lernumgebung auf die Entwicklung der Testresultate (Cohenâsd=0.60).
In der Stichprobe befanden sich zwei Ausbildungsberufe mit unterschiedlicher Ausbildungsdauer: 25 Elektroinstallateurinnen (vierjÀhrige Ausbildung) und 43 Montage-Elektriker (dreijÀhrig). Eine einfaktorielle, univariate Varianzanalyse mit Messwiederholung zeigt, dass die Entwicklung der Testresultate mit dem Ausbildungsberuf zusammenhÀngt (F(1,33) = 6.919,p= .013, η2= .173,n= 35); sie fiel bei den Montage-Elektrikerinnen stÀrker positiv aus, wobei die Elektroinstallateure im pre-test einen wesentlich höheren Wert erreichten (Tabelle 2). Bei den Montage-Elektrikern sind die unterschiedlichen Ergebnisse in den pre-testsauffallend; sie können nicht erklÀrt werden, da bei der Einteilung der Lernenden in die Gruppen die Noten noch nicht bekannt waren.

Bei den Elektroinstallateurinnen ergab sich bei der Entwicklung der Testresultate ein kleiner Unterschied zwischen den elf Lernenden der Interventionsgruppe und den 14 Lernenden der Kontrollgruppe von 0.12 Notenpunkten, dessen Signifikanz jedoch nicht nachgewiesen werden kann. Bei den Montage-Elektrikern hingegen zeigt sich ein signifikanter Unterschied, der gross ausfĂ€llt. So lag hier die Entwicklung der Testresultate der Interventionsgruppe (n=24) gegenĂŒber der Kontrollgruppe (n=19) um durchschnittlich .84 Notenpunkte höher. Es manifestierte sich dabei ein mittlerer bis starker Effekt (Cohenâsd=0.97) der VR-Lernumgebung auf die Entwicklung der Testresultate der Montage-Elektriker, der statistisch signifikant ist. Bei der Interpretation der Studienresultate muss beachtet werden, dass kombinierte Analysen aufgrund der Stichprobengrösse nicht möglich waren.
6 Diskussion und Ausblick
Im Projekt hat sich ein realistisches Potenzial der VR-Technologie fĂŒr einen Einsatz im Rahmen der beruflichen Grundbildung gezeigt. Die Erkenntnisse weisen darauf hin, dass virtuelle Erfahrungs- und LernrĂ€ume betriebliches Lernen unterstĂŒtzen und fĂŒr den Aufbau klar definierter beruflicher Handlungskompetenzen wirksam sein können. Die im Projekt signifikant höhere Wirksamkeit der exemplarischen VR-Lernumgebung bei Montage-Elektrikerinnen (dreijĂ€hrige Ausbildung mit höherem Bezug zu praktischen TĂ€tigkeiten) gegenĂŒber Elektroinstallateuren (vierjĂ€hrige Ausbildung mit höheren Anforderungen im Wissensbereich) weist auf mögliche differentielle Effekte in Einsatz und Konzeption von VR-Umgebungen fĂŒr die Berufsbildung hin. Weitere Forschung könnte beispielweise an die Befunde anknĂŒpfen, dass lernschwĂ€chere Personen besonders stark von einem didaktisch eng angeleiteten Lernsetting profitieren können (Knöll 2007; Nickolaus, Knöll, und Gschwendtner 2006), wie es in der erprobten VR-Simulation realisiert war.
Im Rahmen des Projekts wurde ein erprobter Prototyp fĂŒr den Einsatz einer VR-Applikation in der Berufsbildung entwickelt. Die Entwicklung eines GeschĂ€fts- und Betriebsmodells fĂŒr den weiteren Einsatz dieser Applikation wird zurzeit mit der im Projekt beteiligten Praxispartnerin Bandara VR GmbH erarbeitet. Sie ĂŒbernimmt die bisherige Entwicklungsarbeit der Hochschulen und entwickelt sie mit Pilotkunden aus der betrieblichen Praxis zu einem marktfĂ€higen Produkt weiter.
[1] Zu den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Beitrags:
- Martin Berger ist Dozent fĂŒr Ausbildung Lehrpersonen Sekundarstufe II, PĂ€dagogische Hochschule ZĂŒrich (PHZH)
- Katrin Kraus ist Inhaberin des Lehrstuhls fĂŒr Berufs- und Weiterbildung am Institut fĂŒr Erziehungswissenschaft der UniversitĂ€t ZĂŒrich.
- Thomas Keller ist Professor in Wirtschaftsinformatik an der ZĂŒrcher Hochschule fĂŒr Angewandte Wissenschaften, School of Management and Law, Institut fĂŒr Wirtschaftsinformatik
- Elke Brucker-Kley ist Senior Research Associate an der ZĂŒrcher Hochschule fĂŒr Angewandte Wissenschaften, School of Management and Law, Institut fĂŒr Wirtschaftsinformatik
- Janick Michot ist Research Assistant an der ZĂŒrcher Hochschule fĂŒr Angewandte Wissenschaften, School of Management and Law, Institut fĂŒr Wirtschaftsinformatik
- Reto Knaack ist Dozent und Studiengangleitung Master of Science ZHAW in Engineering an der ZĂŒrcher Hochschule fĂŒr Angewandte Wissenschaften, School of Enginering, Abteilung Lehre
Eine ausfĂŒhrlichere Version des Textes erschien im deutschen Magazin bwp@. Sie ist online open access zugĂ€nglich (Berger u.a. 2022).
[2] Transfer löst das Anliegen der gendergerechten Formulierung mit der willkĂŒrlichen Verwendung von weiblichen und mĂ€nnlichen Bezeichnungen. Wo nur MĂ€nner oder Frauen gemeint sind, wird dies explizit gemacht.
Literatur
- Berger, Martin, Katrin Kraus, Thomas Keller, Elke Brucker-Kley, und Knaack. 2022. Virtuelle Lernumgebungen in der betrieblichen Ausbildung â eine Analyse am Beispiel der Elektrobranche in der Schweiz. Berufs- und WirtschaftspĂ€dagogik online, Nr. 43.
- Bertinelli, Ermano. 2020. Kann mit Hilfe von Videosequenzen, als unterstĂŒtzende Massnahme zum Messkurs, die HandlungsfĂ€higkeit des Montagepersonals bei der ErstprĂŒfung gesteigert werden? Fallbeispiel zur Entwicklung der Weiterbildung in einem Elektrogrossbetrieb in der Schweiz. Urdorf: unveröffentlicht.
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Zitiervorschlag
Sechs Autorinnen und Autoren, 2023: Mit Virtual Reality zu beruflichen Handlungskompetenzen: Fallbeispiel aus der beruflichen Grundbildung fĂŒr Elektroberufe. Transfer, Berufsbildung in Forschung und Praxis (1/2023), SGAB, Schweizerische Gesellschaft fĂŒr angewandte Berufsbildungsforschung.
Quelle:



